Dr. Dieter Kraus
Fallbesprechung Grundrechte SS 1997
Fall 1 (Haste Haschisch in der Tasche, haste immer was zu nasche):
K erwirbt eine ansehnliche Tüte Cannabisharz (Haschisch), um es im
Laufe der Zeit für sich zu verbrauchen. Damit kommt er aber nicht
weit, da die Polizei anläßlich einer Personenkontrolle das Haschisch
bei ihm findet. Wenige Monate später wird er wegen unerlaubten Erwerbes
und Besitzes von Betäubungsmitteln (§ 29 I Nr. 1 und 3 BtMG)
zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Alle Rechtsmittel bleiben erfolglos.
3 1/2 Wochen später legt er Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht
ein, und zwar per Telefax, damit er keine Frist versäumt.
Zur Begründung trägt er vor, § 29 I Nr. 1, 3 iVm Anlage
I [Liste der strafrechtlich erfaßten Betäubungsmittel] BtMG
sei verfassungswidrig, soweit dadurch auch der Er-werb und Besitz von Haschisch
zum Eigenverbrauch erfaßt wird. Als Ausfluß seines grundrechtlich
geschützten Selbstbestimmungsrechts stehe ihm allein die Entscheidung
darüber zu, welche Nahrungs-, Genuß- und Rauschmittel er zu
sich nehme. Die genann-ten Vorschriften griffen somit ganz unverhältnismäßig
in sein verfassungskräftiges æRecht auf RauschÆ ein. Zudem seien die
Strafvorschriften völlig ungeeignet, da sie das Ziel der Cannabis-Prohibition
bekanntermaßen nicht erreicht hätten. Und schließlich
halte er es für überaus ungerecht, zwar den Haschisch-, nicht
aber den Alkohol- und Nikotinkonsum zu kriminalisieren.
Wie ist zu entscheiden?
Aus dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG, Sartorius Nr. 275):
§ 29 Straftaten
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe
wird bestraft, wer
1. Betäubungsmittel unerlaubt anbaut, herstellt, mit ihnen Handel
treibt, sie, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt, veräußert,
abgibt, sonst in den Verkehr bringt, erwirbt oder sich in sonstiger Weise
verschafft, [...]
3. Betäubungsmittel besitzt, ohne zugleich im Besitz einer schriftlichen
Erlaubnis für den Er-werb zu sein, [...].
(5) Das Gericht kann von einer Bestrafung nach den Absätzen 1,
2 und 4 absehen, wenn der Tä-ter die Betäubungsmittel lediglich
zum Eigen-verbrauch in geringer Menge anbaut, herstellt, einführt,
ausführt, durchführt, erwirbt, sich in sonstiger Weise verschafft
oder besitzt. [...].
§ 31a Absehen von der Verfolgung
(1) Hat das Verfahren ein Vergehen nach § 29 Abs. 1, 2 oder 4
zum Gegenstand, so kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung absehen,
wenn die Schuld des Täters als gering anzuse-hen wäre, kein öffentliches
Interesse an der Strafverfolgung besteht und der Täter die Betäu-bungsmittel
lediglich zum Eigenverbrauch in geringer Menge anbaut, herstellt, einführt,
aus-führt, durchführt, erwirbt, sich in sonstiger Wei-se verschafft
oder besitzt.
(2) Ist die Klage bereits erhoben, so kann das Gericht in jeder Lage
des Verfahrens unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 mit Zustim-mung
der Staatsanwaltschaft und des Ange-schuldigten das Verfahren einstellen.
Für die Fallösung ist folgendes zugrunde zu legen:
(1) Der Gesetzgeber bezweckte mit § 29 I Nr. 1, 3 BtMG sowohl die
Gesundheit des Einzelnen als auch die der Gesamtbevölkerung vor den
von Betäubungsmitteln ausge-henden Gefahren zu schützen.
(2) Die aus den siebziger Jahren stammende Einschätzung des Gesetzgebers
vom Ge-fahrenpotential weicher Drogen (wie Cannabis) ist heute umstritten.
Allerdings steht auch deren Ungefährlichkeit keineswegs fest.
(3) In der Wissenschaft wird vielfach ein æUmsteigeeffektÆ von weichen
zu harten Drogen angenommen. Andererseits besteht weitgehend Einigkeit
darüber, daß Cannabis keine körperliche Abhängigkeit
hervorruft und meist auch keine Toleranzbildung be-wirkt. Ungeklärt
ist, ob der Cannabiskonsum das sog. amotivationale Syndrom (= ein Zustandsbild,
das durch Apathie, Passivität und Euphorie gekennzeichnet ist) hervorruft.
(4) Versuche in anderen Staaten, das Drogenproblem durch die mehr oder
weniger kontrollierte Freigabe weicher Drogen in den Griff zu bekommen,
sind gescheitert.
(5) Die im Sachverhalt genannte Cannabismenge liegt über der Obergrenze
der ægeringen MengeÆ gemäß §§ 29 II, 31a I BtMG.
Zur Vertiefung & zum Selbststudium:
BVerfGE 90, 145 û Haschisch-Entscheidung [= NJW 1994, 1577; dazu Anmerkung
von Chr. Gusy in JZ 1994, 863-864; Darstellung in JuS 1994, 1067-1069 (M.
Sachs); aus medizinisch-juristischer Sicht L. H. Schreiber in ZRP 1994,
BVerfGE 80, 137 û Reiten im Walde [= NJW 1989, 2525];
BVerfGE 54, 143 û Taubenfüttern im Park [= NJW 1980, 2572];
BVerfGE 6, 32 û Elfes [= NJW 1957, 297].
Chr. Degenhart, Die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 I GG, in:
JuS 1990, S. 161-169; B. Pieroth, Der Wert der Auffangfunktion des Art.
2 Abs. 1, in: AöR 115 (1990), S. 33-44; R. Hohmann/H. Matt, Ist die
Strafbarkeit der Selbstschädigung verfassungswidrig? û BGH, NJW 1992,
S. 2975, in: JuS 1993, S. 370-374; zum Problem der staatlichen Abgabe von
Heroin an Süchtige siehe die kontrovers geführte Diskussion zwischen
M. Adams und H. Eylmann/R. Kusch in ZRP 1994, S. 106, 209, 421, 426.
erstellt 28.04.1997/Kr.